Katholische Soziallehre oder organisierter Parasitismus
Als sozial motivierter Mensch, der sich weder als Gutmensch noch als Brutal-Kapitalist verstehen will, habe ich jedes Verständnis für die orientierungs- und verantwortungslose Sozialpolitik verloren. Sie beschränkt sich auf Umverteilung von Steuer- und Sozialversicherungsbeiträgen an Wählergruppen. Das System bewirkt offensichtlich, daß die Sozialleistungen nur steigen können. Verringern lassen sie sich nur durch Tricks wie z.B. Inflation oder Erhöhung des Renteneintrittsalters.
Selbstverständlich hat die Wählerschaft längst darauf reagiert: wer am lautesten schreit und die effektivste Lobby organisiert, bekommt das größte Stück vom Kuchen.
Rückbesinnungen hat es wohl gegeben. Kohl forderte zu Beginn seiner Amtszeit: „Leistung muß sich wieder lohnen!“ und Schröder wollte mit der Agenda 2010 „fördern und fordern“. Beides führte nicht zu langfristiger Umorientierung.
So ergeben sich zwei Tendenzen, die geradewegs in die Katastrophe führen:
Die Regierungen ziehen immer mehr Einkommen der Bürger ein – Ziel: 100% - und verteilen dann einen Teil wieder. Die „Bürger“ – glücklicherweise nicht alle - entwickeln und verstärken dementsprechend ihr forderndes Verhalten. Insofern sind sie keine Bürger mehr: sie tragen das Gemeinwesen nicht mehr in verantwortungsvoller Weise mit, sondern verlegen sich auf kindisches Fordern und Almosenempfang, zeigen also Untertanenverhalten.
Freiheit und Verantwortung verabschieden sich.
Das Ganze kann man nur als organisierten Parasitismus bezeichnen.
Und selbstverständlich funktioniert nicht nur die sogenannte Sozialpolitik so, sondern alle anderen Politikbereiche auch.
Nun ist dieses System nicht aus bösem Willen erwachsen, sondern mit besten Absichten eingerichtet worden – aber dann gründlich in den Ruin getrieben worden.
Wenn wir das System also wieder auf die Füße stellen wollten, wäre ein Blick auf die Ursprünge angebracht: Eine wesentliche Rolle spielen selbstverständlich immer noch kommunistisch-sozialistische Denkansätze der mehr oder weniger gewaltsamen Verwirklichung von Gleichheit. Die „weniger gewaltsame“ Variante hat nach meiner Ansicht den oben skizzierten Zustand herbeigeführt und verschlimmert ihn weiter.
Auf der sogenannten bürgerlichen Seite hat vor allem christlich-soziales Gedankengut die Sozialpolitik bestimmt.
Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft: die christliche oder katholische Soziallehre
Eine wesentliche Quelle sozialpolitischer Konzepte – für die CDU wie für die SPD – ist die katholische Soziallehre. Sie hat ihren offiziellen Ursprung in der Enzyklika „Rerum novarum“ des Papstes Leo XIII. von 1891 und wurde in unregelmäßigen Abständen durch weitere Enzykliken erneuert bzw. ergänzt und auf veränderte politische und gesellschaftliche Verhältnisse bezogen:
Quadragesimo anno, 1931, Pius XI. ; Mater et magistra, 1961, Johannes XXIII. ; Populorum progressio, 1967, Paul VI. ; Octogesima adveniens, , 1971, Paul VI.; und von Johannes Paul II.: Laborem exercens, 1981 , Sollicitudo rei socialis, 1987, Centesimus annus, 1991 (100 Jahre nach Rerum novarum).
Ein Überblick findet sich in Kathpedia unter dem Stichwort „Katholische Soziallehre“.
Ein bedeutender Vordenker in Deutschland war Oswald von Nell-Breuning (1890-1991).
Die Prinzipien: Personalität , Solidarität und Subsidiarität
Kollektivismus und Individualismus – Schmarotzertum oder Recht des Stärkeren bestimmen die öffentliche Debatte. Kollektivismus ist regelmäßig ein Kennzeichen totalitärer Systeme sozialistisch – kommunistischer oder faschistoider Natur. Verabsolutierter Individualismus wird oft als Freiheit verkauft, bedeutet aber „Recht des Stärkeren“ und Anarchie und hat mit Freiheit nichts zu tun (außer für die Stärkeren). Tatsächlich besichtigen wir zur Zeit beides. Historisch und empirisch ist immer wieder bewiesen worden, daß beides in den Ruin und in die Katastrophe führt. Aber es ist wie bei der Frage an Radio Erivan, ob Männer Kinder kriegen können. Antwort: im Prinzip nein, aber es wird immer wieder versucht.
Die Orientierung ist verloren gegangen. Interessanterweise verschwand mit der Orientierung in der Politik auch jede - erkennbare - Sachkompetenz sowohl in der Sozialpolitik als auch in der Wirtschaftspolitik. (Als alternative Erklärung für die ruinöse Politik kommen nur Verschwörungen in Frage, unser Gemeinwesen schnell und gründlich zu zerstören. Diesen Gedanken will ich hier nicht vertiefen.)
Personalität
Es fängt beim Menschenbild an: der Mensch ist dem Wesen nach Person. Personsein umfaßt die Individual- und die Sozialnatur.
So sieht es die katholische bzw. christliche Soziallehre.
Dieses Menschenbild fußt auf der unantastbaren Würde des Menschen, die nicht von irgendeiner weltlichen Instanz oder von einer politischen Macht verliehen wird, sondern von Gott. Es sieht den Menschen mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet. Und es gewichtet seine Natur als Einzel- und Gemeinschaftswesen gleich stark.
Wichtig ist der Hinweis der Theologen und der christlichen Philosophen, daß diese Erkenntnisse nicht nur aus göttlicher bzw. biblischer Offenbarung stammen, sondern der menschlichen Vernunft entspringen, also durch Nachdenken für jeden Menschen zugänglich und nachvollziehbar sind.
Ganz einfach, praktisch und hemdsärmelig: bei Betrachtung der Irrwege des Individualismus hin zu hemmungslosem Egoismus und Entsolidarisierung auf der einen Seite und des Kollektivismus auf der anderen, der den Einzelnen nur als Teil der anonymen Masse sieht – „Du bist nichts, das Volk ist alles!“ – brauche ich nicht lange nachzudenken, um das christliche Menschenbild als das angemessene zu erkennen.
Solidarität
Daß der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, eine gesellige – neben der ungeselligen – Natur besitzt, war auch vor 130 Jahren keine neue, bahnbrechende Erkenntnis. Die christliche Soziallehre leitet daraus das Seins- und das Sollensprinzip der Solidarität ab: Zunächst liegt der Sachverhalt zugrunde, daß der Einzelne auf die Gemeinschaft angewiesen ist – und die Gemeinschaft auf den Einzelnen. Sodann folgt daraus, daß Solidarität ein sittliches Erfordernis ist.
Solide heißt fest, haltbar, zuverlässig. Und Solidarität bedeutet Festigkeit und Zuverlässigkeit durch ein enges Beziehungsverhältnis, begleitet von einem Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl.
Das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft wird als Beziehung wechselseitiger Verantwortung gesehen. Einzelmensch und Gesellschaft sollen sich gegenseitig tragen, ergänzen, helfen und stützen. Hier liegt selbstverständlich das Gebot der Nächstenliebe zugrunde: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (und übrigens nicht mehr.)
Das Solidaritätsprinzip wendet sich gegen den Egoismus – auch den Gruppenegoismus -, der ausschließlich eigene Interessen verfolgt. Es fordert die Berücksichtigung der Interessen der anderen und die Unterstützung der Gemeinschaft.
Hier erscheint es mir angebracht, die Solidarität mit der nachfolgenden Generation in den Blick zu nehmen. Da wird schlagartig klar, daß alles, was als Sozialpolitik verkauft wird, der reine Schwindel ist und lediglich Gruppenegoismen befriedigt und Wahlgeschenke beinhaltet. Die langfristige Nicht-Finanzierbarkeit des Rentensystems z.B. ist seit den 1970er Jahren bekannt; trotzdem wird die Rentenkasse mit immer neuen Ansprüchen belastet. Vulgo: eher legt ein Hund einen Wurstvorrat an, als daß ein Politiker über die Legislaturperiode hinaus denkt.
Subsidiarität
Subsidium heißt Beistand, Hilfe, Unterstützung. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, daß die gesellschaftliche und politische Ordnung so beschaffen sein soll, daß die größere übergeordnete Gemeinschaft die Mitverantwortung und die Eigeninitiative des einzelnen und der kleineren Gruppe fördert und unterstützt – und nicht einengt und behindert.
Verantwortlich und zuständig für die Bewältigung aller Herausforderungen des Lebens ist danach immer zuerst die Person selbst, und für größere übergreifende Aufgaben die personnähere Gemeinschaft oder Einrichtung, nämlich diejenige, die am ehesten in der Lage ist, die Aufgabe im Sinne der Hilfe zur Selbsthilfe und zur Selbstentfaltung zu lösen. (Krankenhaus, Altenpflege, Kinderbetreuung etc.)
Wörtlich heißt es in der Sozialenzyklika Quadragesimo Anno des Papstes Pius XI. aus dem Jahr 1931: „Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinschaften leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ (Quadragesimao Anno, Ziffer 79)
Die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips setzt voraus, daß in der Gesellschaft genügend Bereitschaft zu Selbständigkeit und eigenverantwortlichem Handeln vorhanden ist. Eigenständigkeit, Verantwortungsbewußtsein und Einsatzbereitschaft der Bürger sind Voraussetzungen für die Erhaltung der Freiheit.
… und jede Aufgabe, jede Zuständigkeit, jedes Versorgungsthema, das der Staat übernimmt, schränkt die Freiheit ein. Und so werden aus freien, verantwortlichen Bürgern quängelnde Untertanen.
John F. Kennedy forderte 1961 bei seinem Amtsantritt die Amerikaner auf: „Frag nicht, was dein Land für dich tun kann. Frag, was du für dein Land tun kannst.“ Wie viele Deutsche – mit und ohne Migrationshintergrund – können sich wohl mit diesem Spruch identifizieren oder stellen sich die Frage von sich aus?
Dabei gehen wir alle selbstverständlich vom Vorhandensein der eigenverantwortlichen Einsatzbereitschaft zahlreicher Mitbürger aus: die übergroße Mehrheit aller Hilfs- und Rettungskräfte in Deutschland bei Feuerwehr, Rotem Kreuz, THW, DLRG und allen anderen Hilfs- und Rettungsorganisationen sind ehrenamtlich und freiwillig aktiv. Und Staat, Gesellschaft und jeder einzelne vertraut auf ihre Zuverlässigkeit.
Der Zweck: Das Gemeinwohl
Der Zweck sozialer Organisationen und ihrer Aktivitäten ist – nicht nur gemäß der katholischen Soziallehre - das Gemeinwohl.
Wörtlich heißt es in „Gaudium et Spes“, der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils aus dem Jahr 1965:
„Die politische Gemeinschaft besteht um des Gemeinwohls willen; in ihm hat sie ihre letztgültige Rechtfertigung und ihren Sinn, aus ihm leitet sie ihr ursprüngliches Eigenrecht ab.
Das Gemeinwohl aber begreift in sich die Summe aller jener Bedingungen des sozialen Lebens, durch welche die einzelnen, die Familien und die gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und besser erreichen können.“ (Gaudium et Spes, 1965, Ziffer. 74,1)
Ausgehend vom Personsein des Menschen als Einzel- und Gemeinschaftswesen, seiner Würde, Freiheit und Verantwortung soll das Gemeinwohl seine Verwirklichung und Vervollkommnung ermöglichen. Das Gemeinwohl ist nicht auf wirtschaftlich – materiellen Wohlstand beschränkt, sondern umfaßt vor allem auch die geistig – seelischen, spirituellen und religiösen Bedürfnisse.
Und der Ausblick?
Zurück zur anfänglichen Betrachtung:
die Frage, was der Einzelne und die jeweils kleinere Gemeinschaft – Familie, Gemeinde, usw. – von sich aus leisten kann, bevor seitens des Staates Unterstützung erforderlich wird, ist in der Politik und in der öffentlichen Diskussion in den Hintergrund getreten oder wird gar nicht mehr gestellt. Sozialpolitik verkommt zu einem Wettbewerb der Parteien, welche von Ihnen mehr Wohltaten und Geschenke bietet. Man spricht tatsächlich von „Angeboten“. Daß die Mittel für diese „Angebote“ erst anderen Mitbürgern entwendet werden müssen oder schon entwendet worden sind, wird verschwiegen.
Die Abkehr vom Subsidiaritätsprinzip wirkt sich – schon fast selbstverständlich – nicht nur in der Sozialpolitik katastrophal aus: bei Politikern hausieren ganze Heere von Lobbyisten und betteln um Vergünstigungen. Und seitens der Politiker kümmert man sich weniger um sinnvolle und klare Rahmenbedingungen – was richtig wäre -, sondern spielt dieses Spiel aktiv mit.
Es führt zu weit, alle Politikfelder durchzudeklinieren. Deshalb an dieser Stelle nur noch der Hinweis auf die völlig vermurkste Europapolitik, die vertragsgemäß ebenfalls auf Subsidiarität beruhen sollte: dort wird – gleichgültig, wohin man blickt – durchweg genau das Gegenteil dessen getan, was das Subsidiaritätsprinzip erfordert. Details werden geregelt; aber die Themen, die gemeinsames Auftreten der EU erfordern und auf die Europa-Ebene gehören – wie gemeinsame Außen-, Wirtschafts-, Sicherheitspolitik – sind Gegenstand der Kleinstaaterei. Die viel beklagten nationalistischen Tendenzen in Europa kann man u.a. auch als Aufbegehren gegen diese Art von Europa-Politik begreifen.
Chancen, aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen, gibt es allerdings: Das Auftreten Amerikas, Chinas und Russlands auf der politischen Weltbühne erfordert eine starke machtpolitische Antwort Europas – und das Hintanstellen der Kleingeisterei. Dieses ist zur Zeit nicht in Sicht. Vielleicht ist der Druck noch nicht groß genug.
Ansatzpunkte zur Rückbesinnung auf das Subsidiaritätsprinzip in Deutschland werden sich im bevorstehenden Wirtschaftsabschwung sicherlich durch die zu erwartenden Sparzwänge ergeben. Aber davon sind wir zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung heute noch ganz weit entfernt. Allerdings können Sparzwänge auch den Ruf nach noch mehr Staat verstärken.
Grund zur Hoffnung geben große und (hoffentlich weiter) wachsende Gruppen von Menschen, die das Untertanen- und „Hausvieh“-Verhalten ablehnen und verabscheuen, vor allem die vielen freiwillig und ehrenamtlich Tätigen, die Gemeinsinn und Bürgersinn zeigen und praktizieren und sich dabei nicht beirren lassen.