Selbstbestimmung oder Autonomie war ein Wert, um dessen Verwirklichung seit dem Ende des Mittelalters gekämpft wurde. Mit verschiedenen Perspektiven wurden immer weitergehende Stufen der Selbstbestimmung erreicht, wobei sich erst die Bedeutung der Autonomie selbst herausbilden mußte. In seinem Buch „Autonomie“ stellt Harald Welzer diese Entwicklung ausführlich dar.
Immanuel Kants „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ stellt einen Meilenstein in dieser Entwicklung dar.
Bis in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde die Selbstverwirklichung – als Ausgestaltung der individuellen Selbstbestimmung – als höchster Daseinszweck angesehen. Dies zumindest in der Mittel- und Oberschicht der westlichen bürgerlichen Gesellschaften.
Diese Entwicklung scheint nun bei uns beendet oder unterbrochen zu sein. Ist schon alles erreicht in Sachen Selbstbestimmung? Sind andere Dinge noch wertvoller?
Oder verblödet unsere Gesellschaft wieder in Richtung von Kants „Hausvieh“?
Technische Manifestationen der Autonomie sind das Automobil und der Personal Computer. Jeder fährt selbstbestimmt, wohin er will. Jeder benutzt selbständig seinen eigenen Computer. Ausgerechnet an diesen beiden technischen Errungenschaften zeigt sich unser Marsch in die Fremdbestimmung: das Auto ist mittlerweile vernetzt, so daß der Aufenthaltsort und der technische Zustand bekannt sind. Demnächst fährt es rechnergesteuert, also so gut wie ferngesteuert. Der Computer wird vom Hersteller kontrolliert, mit Updates versorgt, von Bundestrojanern und anderen Schnüfflern ausgespäht. Auf manche Ordner hat der Benutzer selbst kein Zugriffsrecht! Als Speicherplatz dient die „Cloud“ – natürlich keine Wolke, sondern eine riesige Halle voll mit Computern (welche bösartige Kreativität, so etwas mit dem bewußt irreführenden Wort Wolke zu bezeichnen!).
Wer das Netz beherrscht, kontrolliert den Nutzer.
Das alles soll natürlich dem Benutzer Vorteile bringen, für die genug Werbung gemacht wird und die hier nicht ausgebreitet werden müssen.
Die technischen Nachteile haben sich in den letzten Wochen gezeigt: wenn etwas zusammenbricht, ist sofort das ganze Netzwerk platt. Jeder hergelaufene Hacker kann größte Schäden anrichten.
Nur: der größte Nachteil ist die unheimliche Abhängigkeit und die Fremdbestimmung.
Warum sich dabei trotzdem so viele Menschen wohl fühlen, haben Aldous Huxley und Neil Postman schon 1932 / 49 bzw. 1985 in „Schöne neue Welt“ und „Wir amüsieren uns zu Tode“ beschrieben. Bequemlichkeit, das Genießen von Annehmlichkeiten bedeutet Abgeben von Verantwortung und Verlust von Kontrolle.
Nun gibt es Warner, die von einer Bedrohung durch die Technik reden. Falsch! Gehen wir der Sache auf den Grund, dann sehen wir, daß es immer Menschen sind, die andere Menschen mit Technik bedrohen.
Menschen bedrohen andere Menschen mit Technik – Datenschutz ist nicht genug.
Die Vorsichtsmaßnahmen und Warnschilder dürfen sich deshalb nicht nur auf Datensicherheit und Datenschutz beschränken. Der Grundsatz lautet noch immer:
Technik muß dem Menschen dienen. Und das heißt nicht dem Anbieter, sondern dem Anwender!
Die Fragen vor jeder IT-Anwendung müssen lauten:
Was bringt sie mir überhaupt? Und: Bringt sie mir mehr Nutzen als dem Anbieter?
Wiegt der Nutzen den Verlust an Kontrolle und Selbstbestimmung auf?